Bücher, Netzwelt und Stimmen in meinem Kopf

Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lebt in Städten. Was auf dem Land übrig bleibt, ist Überalterung, Leerstand und geschwächte Infrastrukturen. Für mich ist das nicht nur Theorie, sondern in meiner Heimat eine beobachtbare Tatsache. Ich komme aus einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, die umringt ist von sterbenden Dörfern. Viele, die wie ich fortgehen, wissen, dass sie wahrscheinlich nicht mehr zurück kommen werden und können. Aber was bleibt vom Landleben, wenn wir gehen? Und wie geht es den Menschen auf dem Dorf?
Zwei aktuelle Romane erzählen vom Dorfleben zwischen den zurückbleibenden Alten und den Aussteigern aus der Stadt. Dörte Hansen widmet sich in ihrem Debütroman „Altes Land“ einer Familie in der Nähe von Hamburg und berichtet von Altlasten, Sorgen und Hoffnungen. Der Roman war 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert und hielt sich wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Die erfolgreiche Autorin und Kritikerin Juli Zeh veröffentlichte nun im März 2016 ihren Gesellschaftsroman „Unterleuten“ über die menschlichen Abgründe eines Dorfs in Brandenburg. Beide Bücher entstauben das Bild von der Idylle auf dem Dorf und entlarven den Traum von der Rückkehr zur Ursprünglichkeit als Illusion. Sie zeigen, wie sich Zukunft und Vergangenheit zu sensiblen Sollbruchstellen verknüpfen und wie die Umgebung die Bewohner prägt. Dennoch haben beide Autorinnen und beide Romane – natürlich – einen ganz eigenen Blickwinkel auf das Thema und sind neben ihren hervorragenden Geschichten menschlicher Schicksale auch eine Momentaufnahme des deutschen Landlebens in der Gegenwart.

Unterleuten von Juli Zeh

Juli Zeh „Unterleuten“ Luchterhand Verlag

Juli Zeh führt den Leser in ihrem neuen Roman ins brandenburgische Dorf Unterleuten, nach dem das umfangreiche Buch benannt ist. Ein geplanter Windpark versetzt hier die Einwohner in Aufregung und lässt alte Konflikte in der Dorfgemeinschaft wieder aufleben. Für die einen lockt dabei der große Profit, für die anderen sorgen die Pläne für Ängste vor der Zerstörung der gewohnten Landschaft. Wie damals, nach dem Untergang der DDR und der bevorstehenden Auflösung der LPG, wird die Dorfgemeinschaft von Unterleuten in verfeindete Lager gespalten. Vor diesem Hintergrund werden Fehden unter Nachbarn zu Intrigen, Unfälle zu Anschlägen und Gerüchte zur Wahrheiten. Vogelschützer, besorgte Mutter, Berliner Aussteiger, Dorfältester, Bürgermeister und Rückkehrer: Juli Zeh gibt jedem Bewohner von Unterleuten eine Stimme und lässt sie die Ereignisse erzählen.Juli Zehs neuer Roman „Unterleuten“ ist jedoch alles andere als eine trockene Chronik, sondern äußerst lebendig. Die Autorin zeigt Menschenkenntnis und einen realistischen Blick auf die Befindlichkeiten der ehemaligen DDR Bürger. Die 600 Seiten haben sich überraschend kurzweilig gelesen und ergeben einen empfehlenswerten Roman über die ungeahnte Dynamik einer Dorfgemeinschaft.

Altes Land von Doerte Hansen

Dörte Hansen
„Altes Land“
Knaus Verlag

Dörte Hansen erzählt in ihrem Roman „Altes Land“ von einer Frau, die als alleinerziehende Mutter dort Hilfe sucht, wo bereits ihre Oma als Flüchtling eine Bleibe fand. Auf dem verwahrlosten Obsthof im Alten Land bei Hamburg steht Anne und ihr kleiner Sohn vor der Tür der Tante Vera. Sie ist vor der Affäre ihres Mannes und den stummen Vorwürfen der übereifrigen Hamburger Mütter geflohen. Nun kommt sie bei einer Frau unter, die nach dem Krieg mit ihrer Mutter aus Ostpreußen geflohen ist. Dörte Hansen verbindet souverän die Geschichte des Dorfes im Alten Land mit den Schicksalen der Menschen an diesem Ort. Sie erzählt von Veras Trauma, vom Konflikt zwischen den Generationen, von der Last der Schuld, aber auch von Hoffnung auf ein besseres Morgen. Humorvoll und sensibel lässt Dörte Hansen Erwartung und Realität aufeinandertreffen und erzählt eine berührende Geschichte starker Frauen, die ihren eigenen Weg gehen. Am Ende müssen die Aussteiger einsehen, dass das Landleben härter ist, als die Lifestyle-Magazine es ihnen versprechen und die verbohrten Alteingesessenen müssen die Veränderungen im Dorf azeptieren.

Nach der Lektüre der Romane von Dörte Hansen und Juli Zeh komme ich zum Fazit: Die geschilderten Konflikte zwischen den Menschen beziehen sich nicht nur auf das Dorfleben, sondern erklären auch, waum wir in der Stadt nicht zufrieden sind. Auf ihren Beobachterpositionen lassen die beiden deutschen Autorinnen unsere Traumblase vom mühelosen harmonischen Zusammenleben platzen und lenken den Blick auf eine Lebensform, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint und von der wir trotzdem sehr viel über die Gegenwart lernen können.

Kommentare zu: "Rezension: Juli Zeh, Dörte Hansen und der Traum vom Dorf" (4)

  1. Was ich vor kurzem las ist in diesem Zusammenhang ganz interessant: die deutsche Literatur ist sehr arm an Großstadt-Romanen. Zumindest gibt es nur sehr wenige bekannte Romane, die im großstädtischem Milieu spielen – mal von Berliner Szene Literatur abgesehen, die ja eher romaneske Milieustudien sind. Aber wenn es um Gesellschaftsromane geht, spielen die meistens in der Provinz. Deutsche Autoren sind offenbar vom Provinziellem mehr angetan bzw. sind provinziell.

    • Das war mir gar nicht so klar! Andererseits ist mir die genaue Abgrenzung von solchen inhaltlichen Zuordnungen nicht so geläufig. Vielleicht entwickelt sich das Genre noch? Wenn ich an Paul Auster denke, leben seine Romane ja auch von so einem tiefen Anonymitäts-Gefühl und Entfremdung. Sind die deutschen Städte vielleicht noch nicht groß genug, oder die Menschen noch zu gut vernetzt für solche Tendenzen? 😉

  2. Isabel Acker schrieb:

    Danke. Das hat gleich mein Lesefieber geweckt. Ich werde wohl Juli Zeh lesen!

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